Bei Bibliotheksmanagement-Systemen fragen sich viele "Should I stay or should I go?"
Mein Mann brauchte vor kurzem ein neues Handy. Der Auswahlprozess schien auf den ersten Blick einfach (grundsätzlicher Ausschluss von Apple, günstige Angebote im Rahmen des Black-Week-Shopping-Wahnsinns). Wie sich indessen herausstellte, haben wir es uns aber zu einfach gemacht. Natürlich hat das neue Handy einen Wecker – aber eben keinen, dessen Snooze-Funktion man durch einfaches Umdrehen des Gerätes deaktivieren kann. Nun gibt es traurige Augen, weil das lieb gewonnene „Flip to Snooze“ fehlt beim neuen Handy fehlt und es in der Folge mit der Technologieakzeptanz nicht weit her ist.
Das Gleiche erleben wir in der Firma oft bei Auswahl- oder Umstiegsprozessen von neuen Lösungen, egal ob Repository, Discovery oder Workflow-Management bei der Digitalisierung, aber zuletzt insbesondere bei Einrichtungen, die einen Austausch ihres Bibliotheksmangement-Systems erwägen. Anforderungen zu formulieren und zu spezifizieren ist nicht leicht, und erst recht nicht dann, wenn in Teams ein gemeinsamer Nenner gefunden werden muss, und sei es nur eine Minimallösung.
In den letzten Monaten hatten wir gleich mehrere Beratungsprojekte, bei denen es unseren Kunden um eeine mögliche BMS-Migration ging. Solche Migrationen sind für viele eine Horrorvorstellung: Kommen alle Daten mit? An welche neuen Oberflächen und Prozesse muss ich mich gewöhnen und wie erkläre ich diese – oder überhaupt nur die Notwendigkeit dafür – in meinem Haus? Was, wenn lieb gewonnene Funktionen fehlen? Auch die Bibliotheksleitungen befinden sich in einem Dilemma: Ein altes System ablösen ist teuer – nicht nur bei initialer Beschaffung und Betrieb, auch beim notwendigen internen Change Management. Sind diese Investitionen wirklich notwendig, wenn man andere strategisch wichtige Aufgaben wie Raumentwicklung, Veranstaltungsarbeit oder Forschungsdatenmanagement daneben stellt?
Klar ist: Die meisten der aktuell eingesetzten Systeme haben eine relativ veraltete Architektur und bereiten in der Konsequenz vor allem bei Integrationen mit anderen Diensten Probleme, seien es Bezahlfunktionen, Selbstbedienungsangebote, Apps oder Discovery-Lösungen. Und sie basieren oftmals auf Komponenten, die aktuellen Sicherheitsanforderungen nicht mehr genügen – die zahlreichen Beispiele von Bibliotheken, die nach Hackerangriffen über Monate lahm gelegt werden, verstärken bestehende Verunsicherungen über die Robustheit der alten Systeme zusätzlich.
Mittel- bis langfristig werden Bibliotheken daher kaum um neue Lösungen mit modernen Architekturen herumkommen, und zumindest bei den großen Verbünden ist der Umstieg auf FOLIO bereits in vollem Gang (und wir von effective WEBWORK sind dabei!). Für andere Häuser, insbesondere solche, die weder in einem Verbund sind noch über nennenswerte IT-Abteilungen verfügen, sind Systemwechsel eine Herausforderung von gigantischem Ausmaß. Was bietet der Markt? Welche Prozesse will ich abbilden, welche Sonderlocken habe ich über die Jahre herangezüchtet und was passiert, wenn ich diese abschneide?
In einigen Fällen haben wir zuletzt etwas schweren Herzens von einem Wechsel abgeraten. Ähnlich wie beim Neubau eines Hauses sind viele Anforderungen zu formulieren, und das braucht neben Zeit vor allem auch eine Fähigkeit, Prozesse abstrakt zu beschreiben – und gegebenenfalls auch die Bereitschaft, einzelne Prozesse zu vereinfachen und zu vereinheitlichen oder auch abzuschaffen.
Zusammen mit unserem Designer Kai Mertens haben wir eine kleine Illustrationsreihe entwickelt, um die Optionen Neubau (Migration) und Ertüchtigung des Altbaus (auf Nutzer:innen fokussierte Verbesserungen bei Beibehaltung geliebter interner Prozesse) zu visualisieren. Ich bin sehr gespannt, ob das dabei hilft, eine Lösung für das „Should I stay or should I go“-Dilemma zu finden. Zugegebenermaßen hängt das leider aber auch davon ab, inwieweit sich die Anbieter von Legacy-Systemen zur Bereitstellung standardisierter Schnittstellen überreden lassen. Die Skepsis darüber, ob solche Überredungs-Versuche überhaupt erfolgreich sein können, lässt das Entscheidungspendel dann doch eher in Richtung Neubau ausschlagen lassen - zu Recht, wie ich finde, denn wenn ein BMS keine ausreichenden Schnittstellen hat (oder haben will), dann gehört es inzwischen tatsächlich in die Mottenkiste.
P.S.: Dem Mann habe ich, nach Tests diverser Apps im Sinne der Ertüchtigung des gewählten neuen Handys, einen Wecker für 14,99 geschenkt. Er ist zufrieden. Ich bin allerdings ein wenig beschämt darüber, die Anforderungsanalyse nicht umsichtiger durchgeführt zu haben…